I. Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 27.09.2005 dahin abgeändert, dass die Beigeladene verpflichtet wird, der Antragstellerin vorläufig und leihweise bis zu einer Entscheidung im Verfahren vor dem Sozialgericht Würzburg S 14 KR 282/05 einen individuell angepassten behindertengerechten Autokindersitz zur Verfügung zu stellen.
II. Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren.
Die Beteiligten streiten um die vorläufige Bewilligung eines individuell angepassten behindertengerechten Autokindersitzes für die Antragstellerin (ASt).
Die 1988 geborene ASt leidet infolge eines frühkindlichen Hirnschadens an einer linksbetonten spastischen Tetraparese, an Sprachstörungen sowie an Grand-Mal-Epilepsie. Zudem besteht bei ihr ein Zustand nach Acetabuloplastik beider Hüftgelenke. Sie ist Rollstuhlfahrerin mit einem Grad der Behinderung (
GdB) von 100. Zudem sind ihr die Merkzeichen "aG", "H" und "RF" zuerkannt. Sie erhält von der Beigeladenen Pflegegeld in der Pflegestufe III.
Der Antragsgegner (Ag) trägt seit dem 01.09.1997 die Kosten der Unterbringung der ASt im 5-Tage-Internat des Zentrums für Körperbehinderte W. Der Kostenübernahme einer Unterbringung der ASt in einem 7-Tage-Internat des Zentrums für Körperbehinderte in W. wurde bislang vom Ag nicht zugestimmt (
vgl. dazu Schreiben vom 11.08.2005). Aufgrund der besonderen Situation der Mutter der ASt wurde dieser jedoch angeboten, für jedes zweite Wochenende und für die Ferienzeiten die Kosten einer Kurzzeitpflegeheimunterbringung zu übernehmen, sofern diese Kosten nicht von der Pflegekasse im Rahmen der Kurzzeit- oder Verhinderungspflege getragen werden könnten.
Mit Schreiben vom 19.05.2005 beantragte die Mutter der ASt als deren gesetzliche Vertreterin beim Landratsamt
S. die Übernahme der Kosten in Höhe von 2.581,14
EUR für einen individuell angefertigten behindertengerechten Autospezialsitz für die ASt unter Vorlage eines Kostenvoranschlages der
Fa. T. Reha-Team vom 15.04.2005, einer ärztlichen Verordnung sowie einer Kopie des Schwerbehindertenausweises der ASt. Zuvor hatte die ASt unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung des Allgemeinarztes
Dr. S. vom 21.01.2005 und eines Kostenvoranschlages der
Fa. T. Reha-Team vom 20.01.2005 bei der Beigeladenen die Übernahme der Kosten für einen solchen Autospezialsitz beantragt. Die Beigeladene lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 02.02.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2005 ab. Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) lägen nur dann vor, wenn deren Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse des Behinderten benötigt würden und es nicht in den Aufgabenbereich der Krankenkasse falle, wenn der Kranke notwendig werdende Hilfen im Bereich der allgemeinen Lebensführung wie erweiterte Mobilität durch Pkw-Benutzung benötige. Da der behindertengerechte Autokindersitz zur Erleichterung der Pkw-Benutzung eingesetzt werden solle, sei der vorgenannte Gegenstand dem Bereich der behindertengerechten Zusatzausstattung des Pkw zuzuordnen. Kraftfahrzeug-Zusatzgeräte, mit denen ein Personenkraftwagen wegen der bestehenden Behinderung eines Versicherten oder dessen Familienangehörigen ausgerüstet werden müssten, habe das Bundessozialgericht (
BSG) im Urteil vom 06.08.1998 Az. B 3 KR 3/97 R die Hilfsmitteleigenschaft im Sinne von § 33
SGB V abgesprochen. Der beantragte Autokindersitz diene nach alledem nicht der medizinischen Rehabilitation und liege deshalb außerhalb des Aufgabenbereiches der gesetzlichen Krankenversicherung, so dass eine Kostenübernahme durch die Beigeladene nicht in Betracht komme.
Die hiergegen erhobene Klage der ASt ist beim Sozialgericht Würzburg (SG) unter dem Az. S 14 KR 282/05 anhängig.
Am 13.06.2005 leitete das Landratsamt
S. den Antrag der ASt an den Ag weiter. Dieser lehnte mit Bescheid vom 22.06.2005 die Übernahme der Kosten für den Autokindersitz unter Hinweis auf ein Urteil des
BSG vom 16.09.2004 Az. B 3 KR 19/03 R ab und verwies auf die Zuständigkeit der Beigeladenen.
Am 26.07.2005 stellte die Mutter der ASt als deren gesetzliche Vertreterin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes den Antrag, den Ag im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für den behindertengerechten Autokindersitz ihrer Tochter, der ASt, zu übernehmen.
Der Ag beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Das
BSG habe festgestellt, dass die Kosten eines schwenkbaren Autositzes als Hilfsmittel nach § 33
SGB V von der Krankenkasse zu übernehmen seien, weil ein schwenkbarer Autositz geeignet sein könne, behinderungsbedingte Beeinträchtigungen eines Versicherten auszugleichen. Ein solches Hilfsmittel sei von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betreffe. Zu den Grundbedürfnissen in diesem Sinne zählten aber auch das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen, wofür der von der ASt beantragte Autokindersitz diene. Zur Annahme eines Hilfsmittels im Sinne von § 33 Abs 1
SGB V genüge, wenn durch das Hilfsmittel in Teilbereichen ein Ausgleich körperlicher Defizite erreicht werden könne. Zudem sei die zuständige gesetzliche Krankenversicherung als zuerst angegangener Rehabilitationsträger nach § 14 Abs 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) zuständig.
Nach weiteren Sachverhaltsermittlungen lud das SG Würzburg mit Beschluss vom 11.08.2005 die Barmer Ersatzkasse bei und verpflichtete mit weiterem Beschluss vom 27.09.2005 die Beigeladene, die Kosten für einen orthopädischen Autositz in Höhe von 2.581,14
EUR zu übernehmen.
Hiergegen wendet sich die Beigeladene mit ihrer beim Bayer. Landessozialgericht am 04.11.2005 eingegangenen "Berufung".
Sie beantragt, unter Aufhebung des Beschlusses des SG vom 27.09.2005 den Antrag abzuweisen.
Sie meint im Wesentlichen, es bestehe keine Leistungspflicht des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die ASt und der Ag beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie wiederholen im Wesentlichen ihre bisherigen Ausführungen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in beiden Instanzen sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Beigeladenen, als solche ist die "Berufung" der Beigeladenen zu verstehen, ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Das SG hat ihr nicht abgeholfen (§ 174
SGG).
Die Beschwerde ist jedoch nur zu einem geringen Teil begründet, weil die ASt einen Anspruch gegen die Beigeladene auf leihweise Überlassung eines individuell angefertigten und behindertengerechten Autokindersitzes hat.
Nach Auffassung des Senats ist der Antrag der ASt vom 26.07.2005 dahin auszulegen (§ 123
SGG), dass die ASt vor dem Hintergrund des beim SG anhängigen Klageverfahrens gegen die Beigeladene hier nur die vorläufige und leihweise Überlassung des benötigten Autokindersitzes bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache im Verfahren vor dem SG Az. S 14 KR 282/05 begehrt.
Der so verstandene Antrag der ASt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist begründet.
Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ( Regelungsanordnung) ist zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs 2 Satz 2
SGG). Das ist etwa dann der Fall, wenn der ASt ohne eine solche Anordnung schwere oder unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so
BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74 und vom 19.10.1977 BVerfGE 46, 166/179; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4.Aufl 2005, Rdnr 643).
Eine solche Regelungsanordnung setzt zudem voraus, dass die ASt Angaben zum Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das in der Regel die Eilbedürftigkeit - und zum Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den sie ihr Begehren stützt - glaubhaft machen kann (§ 86b Abs 2 Sätze 2, 4
SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Abs 1 Zivilprozessordnung; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8.Aufl 2005, § 86b Rdnr 41).
Bei der hier erforderlichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage (
vgl. dazu im Einzelnen
BVerfG vom 12.05.2005 NDV-RD 2005, 59) haben die Sozialgerichte effektiven Rechtsschutz im Sinne des Art 19 Abs 4 Grundgesetz (
GG) zu leisten. Dabei stellt Art 19 Abs 4
GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens. Die Gerichte müssen sich im Falle drohender schwerer oder unzumutbarer Nachteile schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Das gilt insbesondere dann, wenn es auch um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Diese besonderen Anforderungen an Eilverfahren schließen es andererseits nicht aus, dass die Gerichte den Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache vermeiden, indem sie
z.B. Leistungen nur mit einem Abschlag oder nur vorläufig und darlehensweise
bzw. - wie hier - leihweise zusprechen.
Bei der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Güter- und Folgenabwägung kommt der Senat unter Heranziehung der umfangreichen Ermittlungen des SG zur Überzeugung, dass die ASt im Ergebnis einen Anspruch auf den begehrten Autokindersitz hat. Die Mutter der ASt bemüht sich intensiv um die Aufrechterhaltung des Kontaktes zu ihrer Tochter, die in einem 5-Tage-Internat untergebracht ist. Seit dem 01.04.2005 hat die Mutter der ASt die Chance ergriffen, berufstätig zu werden und begonnen, eine Umschulung zur Krankenschwester zu machen. Sie will gleichwohl den Kontakt zu ihrer Tochter regelmäßig aufrecht erhalten und sie mit dem Pkw - sofern es ihr die Ausbildung erlaubt - so oft wie möglich abholen und bei sich haben. Das betrifft nicht nur die Wochenenden oder die Ferienzeiten, sondern auch ihre übrige Freizeit. Verwiese man sie dazu auf den Fahrdienst der Johanniter Unfallhilfe, woraufhin die Beigeladene zielt, so wäre der Kontakt zwischen Mutter und ASt zumindest zeitlich erheblich eingeschränkt. Der begehrte Autokindersitz wird dadurch zwar nicht zu einem Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil er allein für die speziellen Bedürfnisse der ASt als Mensch mit Behinderung entwickelt und hergestellt werden muss und allein von ihr benutzt werden kann. Der Kindersitz ist insoweit erforderlich, um das Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleiches zu erfüllen. Ein überschlägiger Vergleich der Transportkosten und der Kosten des Autositzes (
vgl. dazu
BSG vom 16.09.2004 ZfS 2004, 362) spricht im Eilverfahren ebenfalls zugunsten der ASt.
Diese Überlegungen genügen dem Senat, um in dem hier anhängigen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes davon auszugehen, dass die ASt eines solchen Hilfsmittels bedarf. Letztlich weist der Senat darauf hin, dass nach den unbestrittenen Angaben der ASt ihr von der Beigeladenen bereits vor etwa zehn Jahren ein solcher Spezialkindersitz für Autofahrten bewilligt worden ist, aus dem die ASt zwischenzeitlich aber herausgewachsen ist.
Mit dem SG ist der Senat darüber hinaus der Auffassung, dass die Beigeladene als zuerst angegangene Leistungsträgerin vorläufig zur Leistung gemäß § 43 Abs 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I) verpflichtet ist. Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit auf die zutreffenden Ausführungen gemäß § 142 Abs 2 Satz 3
SGG im Beschluss des SG vom 27.09.2005, denen er hier im Eilverfahren folgt.
Auf die Vorschrift des § 19
SGB IX kommt es bei summarischer Überprüfung hier nicht an, weil die Beigeladene als zuerst angegangener Leistungsträger den entsprechenden Leistungsantrag der ASt nicht innerhalb der dort genannten Frist an einen anderen Leistungsträger weitergeleitet hat.
Bei einer Gesamtabwägung ist die Beigeladene mithin im Sinne des o.a. Antrags der ASt zur vorläufigen und leihweisen Zurverfügungstellung eines Autokindersitzes, wie er sich aus der Beschreibung des Sanitätshauses Traub
GmbH vom 22.08.2005 ergibt, zu verpflichten.
Ob die ASt im Ergebnis einen Anspruch auf Bewilligung eines solchen Autokindersitzes hat, bleibt der Entscheidung des SG im Verfahren Az. S 14 KR 282/05 vorbehalten.
Die Beschwerde hat deshalb nur in einem sehr eingeschränkten Umfange Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177
SGG).