Urteil
Kein Anspruch auf einen behindertengerechten Autositz mit anatomischer Sitzschale in Sonderanfertigung

Gericht:

SG Aachen 13. Kammer


Aktenzeichen:

S 13 KR 23/10


Urteil vom:

19.06.2010


Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf einen behindertengerechten Autositz mit anatomischer Sitzschale in Sonderanfertigung.

Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin bestehen eine schwere geistige Behinderung bei frühkindlichem Hirnschaden und eine Tetraspastik mit ausgeprägter Verkrümmung des Körpers; sie ist schwerbehindert (GdB von 100, Merkzeichen B, G, aG, H, RF) und schwerstpflegebedürftig (Pflegestufe III). Seit Mai 2006 lebt die Klägerin in einer 8-Personen-Behindertenwohngruppe im Rahmen des betreuten Wohnens. Von montags bis freitags ist sie in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt; durch den Behindertenfahrdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) wird sie dorthin gebracht und wieder abgeholt; bei diesen Fahrten wird der Rollstuhl, in dem die Klägerin sitzt, in dem DRK-Fahrzeug befestigt. Zu Arztbesuchen wird die Klägerin mittels Rollstuhl-Taxi in Begleitung einer Pflegeperson gefahren. Physikalische Therapien erhält sie im Rahmen von Hausbesuchen.

Im April 2009 erhielt die Wohngruppe einen älteren Kleinbus (9-Sitzer) geschenkt. Mit diesem Bus unternimmt die Gruppe Ausflüge in die Umgebung. Der Rollstuhl der Klägerin kann in dem Bus nicht befestigt werden; eine (sichere) Mitfahrt der Klägerin in dem Bus bei den Ausflügen ist nur durch einen Autositz mit anatomisch geformter Sitzschale in Sonderanfertigung gewährleistet.

Am 26.08.2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit einem solchen Autositz unter Vorlage einer entsprechenden Hilfsmittelverordnung der Hausärztin Dr. C. vom 27.05.2009 und eines Kostenvoranschlags der Reha-Zentrum-W. GmbH vom 10.06.2009 über 3.668,18 EUR.

Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 21.10.2009 ab mit der Begründung, die Nutzung eines PKW gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen, die von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Rahmen der Hilfsmittelversorgung zur befriedigen seien, sondern zu der erweiterten Mobilität.

Dagegen legte die Klägerin am 11.11.2009 Widerspruch ein, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 19.01.2010 zurückwies.

Dagegen hat die Klägerin am 27.01.2010 Klage erhoben. Sie trägt vor, bei den Ausflügen mit dem Bus gehe es um ein allgemeines Bedürfnis des täglichen Lebens. Die Sitzschale diene dazu, ihre Mobilität im täglichen Leben zu gewährleisten und an den Gruppenausflügen teilzunehmen; die Gruppe führe die Fahrten immer gemeinsam durch; ohne Sitzschale sei sie von den Ausflügen ausgeschlossen. Ihre Behinderung sei durch den Autositz auszugleichen, weil sie sich nicht selber im Wagen festhalten und sichern könne. Zur Integration behinderter Menschen gehöre auch die Teilnahme am alltäglichen Leben, welches gemeinsame Fahrten mit den übrigen Bewohnern einschließe. Zur Stützung ihres Vortrags hat die Klägerin eine Bescheinigung des Nervenfacharztes Dr. X. vom 23.03.2010 vorgelegt, nach der die Transporte von Seiten der Wohngruppe dringend erforderlich seien, um ihre soziale Restkompetenz bei entsprechenden gemeinschaftlichen Aktivitäten zu fördern.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.10.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.01.2010 zu verurteilen, sie mit einem behindertengerechten Autositz mit anatomischer Sitzschale in Sonderanfertigung zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, die GKV habe nur für einen Basisausgleich der Behinderung zu sorgen. Auch wenn Fahrten und Ausflüge in die Umgebung sinnvoll und wünschenswert seien, stellten sie kein durch die GKV zu befriedigendes Grundbedürfnis dar. Die Mobilität der Klägerin sei durch den Behindertenfahrdienst des DRK und Rollstuhl-Taxen (für Arztbesuche) ausreichend sichergestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Sie hat keinen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Autositz.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Zwar ist ein behindertengerechter Autositz mit anatomischer Sitzschale in Sonderanfertigung, wie ihn die Klägerin begehrt, kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil er speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konstruiert und nur von ihnen eingesetzt wird. Ein solches Hilfsmittel ist auch nicht durch die zu § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen. Dem Anspruch der Klägerin auf den Autositz steht jedoch entgegen, dass dieser nicht "erforderlich ist", um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Dies bedarf für die Tatbestandsalternativen der Sicherung des Krankenbehandlungserfolges und der Vorbeugung einer drohenden Behinderung im Fall der Klägerin keiner näheren Darlegung.

Soweit die Klägerin geltend macht, der begehrte Autositz diene einem Behinderungsausgleich, begründet dies keinen Anspruch auf Leistungen der GKV. Der Zweck des Behinderungsausgleich durch ein von der GKV zu leistenden Hilfsmittels bedeutet nicht, dass dadurch auch sämtliche direkten und indirekten Folgen einer Behinderung auszugleichen wären. Aufgabe der GKV ist allein die medizinische Rehabilitation, um eine selbstständiges Leben zu führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 9/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 32). Bei einem unmittelbar auf den Ausgleich der beeinträchtigten Organfunktion selbst gerichteten Hilfsmittel, z.B. einem künstlichen Körperglied, ist ohne Weiteres anzunehmen, dass eine medizinische Rehabilitation vorliegt. Hingegen werden nur mittelbar oder teilweise die Organfunktionen ersetzende Mittel lediglich dann als Hilfsmittel im Sinne der Krankenversicherung angesehen, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigen oder mildern und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betreffen (BSG a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu derartigen Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen. Auch das Grundbedürfnis der Erschließung eines "gewissen körperlichen Freiraums" hat die Rechtsprechung nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden verstanden (BSG, a.a.O.). Das Grundbedürfnis gehunfähiger Menschen auf Ersetzung des Verlustes der Fortbewegungsfähigkeit betrifft nur die Möglichkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, a.a.O.). Dem Grundbedürfnis auf Fortbewegung ist schon dann Genüge getan, wenn ein Rollstuhl im Nahbereich bewegt werden kann, selbst wenn dies nur unter Aufsicht möglich ist. Von der GKV nicht geschuldet wird das Ermöglichen von Freizeitbeschäftigungen wie Wandern, Dauerlauf, Ausflüge u.ä., die das "Stimulieren aller Sinne", die "Erfahrung von Geschwindigkeit und Raum", das "Erleben psychischen und psychischen Durchhaltens" sowie das "Gewinnen von Sicherheit und Selbstbewusstsein" mit sich bringen (BSG, Beschluss vom 22.04.2009 - B 3 KR 54/08 B unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R).

Im Fall der Klägerin ist das allgemeine Grundbedürfnis der Bewegungsfreiheit (Mobilität) betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens usw. sichergestellt wird. Zwar ist diese Fähigkeit der Klägerin durch ihre Behinderung beeinträchtigt; jedoch kann sie den Nahbereich ihrer Wohnung mit dem vorhandenen Rollstuhl erreichen, wenn auch nur mit Hilfe ihrer Pflegepersonen. Insofern bietet der begehrte Autositz weder einen qualitativen noch einen quantitativen Gebrauchsvorteil. Nach den Darlegungen der Klägerin würde der Autositz im Wesentlichen für Ausflüge in die Umgebung mittels des Autobusses, den die Wohngruppe geschenkt bekommen hat, benötigt. Die Kammer verkennt nicht, dass die Integration der Klägerin in den Wohngruppenverbund für sie erhebliche Bedeutung hat, gemeinsame Ausflüge sind jedoch nicht die einzige Möglichkeit, die Klägerin in den Wohngruppenverbund zu integrieren. Das Begehren der Klägerin wäre anders zu beurteilen, wenn der Autositz dafür benötigt würde, sie zur Schule oder zur Krankenbehandlung zu befördern (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 16.09.2004 - B 3 KR 19/03 R, Urteil vom 19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R und vom 20.11.2008 - B 3 KN 4/07 KR R).

Das Leistungsrecht anderer Rehabilitationsträger ergibt den geltend gemachten Anspruch ebenfalls nicht (vgl. zur Verpflichtung der Krankenkasse nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX als erstangegangener Rehabilitationsträgerin im Verhältnis zur Klägerin zur Prüfung auch der weiter in Betracht zu ziehenden rehabilitationsrechtlichen Anspruchsgrundlagen: BSG, Urteil vom 25.06.2009 - B 3 KR 4/08 R). In Betracht käme allenfalls ein Anspruch auf Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB IX auf der Grundlage von § 9 Abs. 1 der Verordnung nach § 60 SGB XII (Eingliederungshilfeverordnung). Danach sind "andere Hilfsmittel" im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII solche Hilfsmittel, die dazu bestimmt sind, zum Ausgleich der durch die Behinderung bedingten Mängel beizutragen. § 9 Abs. 3 Eingliederungshilfeverordnung bestimmt, dass die Versorgung mit einem anderen Hilfsmittel nur gewährt wird, wenn das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich und geeignet ist, zu dem in Abs. 1 genannten Ausgleich beizutragen, und wenn der behinderte Mensch das Hilfsmittel bedienen kann. Im Ergebnis ist die Entscheidung der Beklagten auch unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Grundlagen nicht zu beanstanden, weil die genannten Voraussetzungen nicht in jeder Hinsicht erfüllt sind. Weder ist der Autositz dazu bestimmt, die durch die Behinderung bedingten Mängel auszugleichen noch könnte die Klägerin das Hilfsmittel bedienen. Im Hinblick darauf bestand auch keine Notwendigkeit, den Sozialhilfeträger beizuladen (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2009 - B 3 KR 4/08 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R4727


Informationsstand: 17.08.2010